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Die moralische Ikonographie des 20. Jahrhunderts

Wie prägen Bilder unsere Moral im Sinne der Regeln, Wertungen und Praktiken, die zwischenmenschliche Beziehungen in der Nähe, aber auch über kulturelle, soziale und räumliche Distanzen hinweg organisieren? Grundannahme des Projekts ist, dass bestimmte Bildmuster und deren Entwicklung in einem engen, wechselseitigen Verhältnis zu den moralischen Ordnungen im 20. Jahrhundert und deren ambivalenter Referenz zur modernen Gewalt stehen. Moralische Reaktionsmuster wie "Mitgefühl, "Betroffenheit" oder "Entsetzen" sind ebenso wie Indifferenz, Abwehr und Verdrängung grundlegend visuell fundiert.

Vor allem hinsichtlich der Motive, Funktionen und Wirkungen von Medienbildern im Kontext von Kriegen, politischer Gewalt und "humanitären Katastrophen"wird die moralische und politische Dimension dieser Ikonographien seit den 1970er Jahren kritisch unter den Stichworten einer optischen "politics of pity" (Luc Boltanski) oder einer "compassion fatigue" (Susan D. Moeller) diskutiert. Verfechtern eines genuinen politischen Potenzials  der Fotografie, Nähe zu Leidenden zu vermitteln und humanitäre Botschaften zu vermitteln, stehen fundamentaler Kritik wie Susan Sontag gegenüber, die vor allem die sentimentalisierenden und entpolitisierenden Effekte der humanitären Pressefotografie betonen: "Thex simplify. They agitate. They create the illusion of consensus."

Gegenüber der oftmals selbst moralisch aufgeladenen Debatte zu den Grenzen und Potenzialen "der" Fotografie ist es Ziel des Projekts, Fotografien als genuin politische Artefakte historisch zu analysieren, um sie als Substrate und Wirkungsfaktoren von kulturellen Ordnungen des modernen Umgangs mit Gewalt und menschlichem Leiden in die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu integrieren. Während der "moralischen Ikonographie" alle Bildzeugnisse zugeordnet werden können, die zur Ausbildung von moralischen Ordnungen beitragen (wie Heiligenbilder oder Hochzeitsfotos), liegt diesem Projekt ein engeres Verständnis zugrunde:

  • untersucht werden vor allem fotografische und filmische Bilder, die vornehmlich in öffentlichen und medialen Zusammenhängen wie Medienberichten, Ausstellungen oder Spendenkampagnen verwendet worden und deren Bildsujet somit auf einen öffentlichen Diskurs ausgerichtet sind.
  • Im Zentrum stehen Repräsentationen von politisch motivierter Gewalt und Gegengewalt, kriegsbedingter Zerstörung und katastrophisch veränderten Lebenssituationen, ihren Bedingungen und Wirkungen sowie der Reaktionen auf sie durch Beteiligte und Dritte.
  • Dabei werden insbesondere somatische Bilder von körperlichen Ausdrucksformen einbezogen, die physisches Leiden, emotionale Reaktionen oder aktives und reaktives Verhalten von Dritten während und nach solchen Ereignissen dokumentieren.
  • Somatische Bilder verweisen ihrerseits auf ein breites Spektrum von Bildern, die Gewalt, Katastrophen und ihre Auswirkungen in nicht-somatischen Repräsentationen durch visuelle Ausdrucksformen oder dingliche Verweise symbolisieren (u.a. "Leere", körpernahe Objekte) oder Gewaltverhältnisse der Moderne moralrelevant verkörpern (u.a. "animal bodies").

 Somatische Bilder und ihre nicht-somatischen Referenzen spielen in der Fotografie seit deren Aufkommen als Massenmedium im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine zunehmend wichtigere Rolle. Zusammen mit (dokumentarischen) Filmen haben sie Bilder und Wahrnehmungen von räumlich oder sozial "entfernten Anderen" mitgeprägt. Frühe Kriegsbilder, Kolonial- und Reisefotografien sowie die Sozialfotografie und seit den 1920er Jahren vor allem der moderne Fotojournalismus im Verbund mit Illustrierten und Nachrichtenmedien haben Bildmuster von Menschen im Zeichen von politischer Gewalt und humanitären Katastrophen in der öffentlichen Wahrnehmung verankert.

Solche fotografischen Bilder transformieren Wirklichkeit in Zeichensysteme. Wahrnehmungen von entfernten Anderen geschehen immer durch mediale Konstruktionen, die von den Betrachtern angeeignet und mit einem eigenen Sinn versehen werden. Sie setzen ihre Betrachter durch historisch gewachsene Repräsentationsordnungen zu räumlich entfernten Situationen und Ereignissen in Beziehung. Wiederkehrende Bildmuster sorgen hierbei für Komplexitätsreduktion und stiften Deutungskontinuitäten. Die Fotografie vereint dabei neue Stilformen und Möglichkeiten bedingt durch den Authentizitätseffekt vermeintlich unmittelbarer Nähe, tradiert aber zugleich die Ikonographien von "Pathosformeln" (Aby Warburg) wie der Pietá von Trauerhaltungen oder Fürsorgegesten.

Als Teil diskursiver Ordnungen prägen Medienbilder nicht nur Wahrnehmungen, Handlungen und moralische Gefühle, sondern sind durch ihre Produktion, Verwendung und Wahrnehmung immer auch den Ereignissen immanent und damit politisch: So stellen Aufnahmen von Hungernden keine neutrale Dokumentation dar, sondern sind selbst Bestandteil politischer Prozesse des Umgangs mit solchen Katastrophen. Fotografien sind deshalb als Teil eines mit seinen Ereignissen und Kontexten eng verwobenen Medienmarktes, von humanitären und politischen Interaktionsnetzen sowie einer globalen Kulturalisierung und Kommerzialisierung  von menschlichem Leiden zu analysieren.

Um die Genese der optischen Fundierung moralischer Ordnungen im 20. Jahrhundert anhand visueller Repräsentationsmuster und ihrer sprachlichen Rahmung durch begleitende Texte zu untersuchen, wird vor allem danach gefragt, 

  • welche ikonographischen Muster sich entwickelt haben und wo es Abweichungen davon gibt;
  • welche traditionellen Bildformeln dabei übernommen oder angeeignet wurden;
  • ob und welche impliziten oder expliziten Zeigbarkeitsregeln es gab und welche Akteure sich für deren Einhaltung verantwortlich zeichneten;
  • wann, warum und durch wen sich solche Bildmuster verändert haben;
  • welche Rolle die Ökonomie des Medienmarktes und der politische Diskurs spielten;
  • ob und inwieweit bildliche Repräsentationen Zugänge zu den (politische, wirtschaftlichen, sozialen) Bedingungen und Kontexten der dargestellten Ereignisse eröffneten;
  • welche Handlungsspielräume Bildakteure - insbesondere Fotografen aber auch Medienredakteure - bei der Gestaltung des öffentlichen Bilddiskurses hatten;
  • inwieweit bestimmte Muster der Repräsentationen die politisch-moralische Imagination von Gewalt und Katastrophen sowie von deren Relevanz für die politische Moral des 20. Jahrhunderts geprägt haben und mit welchen Implikationen dies verbunden war.

Fotografisch und filmisch erzeugte Bilder von Menschen als Handelnden und Leidenden im Kontext von Gewaltereignissen des 20. Jahrhunderts sollen mithin in die Kontexte ihrer Entstehung, Verwendung und Rezeption zurückverfolgt werden, um die Genese, Dauer und Wirkung von optischen Regimen für die politische Imagination und moralische Ordnung der Moderne zu analysieren.