skip to content

Forschungsprojekt zur Studienstiftung des deutschen Volkes

Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung der Studienstiftung angesichts der Systembrüche 1933 und 1945

Gegenüber den meisten Fällen der auf ihre NS-Belastungen hin untersuchten Ämter weist die Studienstiftung einige Besonderheiten auf:

  1. Die Studienstiftung entstand zweimal: 1925 gegründet, wurde sie 1934 aufgelöst und besteht erst wieder seit 1948. Angesichts der organisatorischen Umbrüche empfiehlt es sich, von der „ersten“ bzw. „Weimarer“ und der „zweiten“ bzw. „Bonner“ Studienstiftung zu sprechen. Organisationsbezogen lassen sich keine personellen Kontinuitäten über die NS-Zeit hinweg untersuchen. Zudem war die Gründung 1948 keine unstrittige Fortsetzung, sondern bedurfte einer eigenen Legitimation.
  2. Beide Gründungen entwarfen die Studienstiftung als ein gesellschaftspolitisches Projekt im Kontext von Krisenerfahrungen und Demokratisierungsprozessen. Auswahl und Förderung sollten die staatstragende Elite prägen. Außer der wissenschaftlichen Begabung wurde eine „charakterliche Eignung und Bewährung, Hervorragendes für das Volksganze zu leisten“ verlangt (Anonymous 1930: 234). Auch die hieran anknüpfende Gründung der Studienstiftung 1948 war Ergebnis einer intellektuellen Selbstfindung wie flankierende Maßnahme zur Stabilisierung der Bundesrepublik.
  3. Eine Skandalisierung der Studienstiftung zu etwaigen „NS-Belastungen“ ist bislang ausgeblieben, es gab sie aber über die Förderung späterer RAF-Mitglieder (Gallus/Zimmermann 2016). Durch Auflösung und Überführung in das „Reichsstudentenwerk“ weist sie eher Ähnlichkeiten zu im NS verbotenen Organisationen auf. Über zwanzig Prozent der Stipendiaten verloren 1933/34 aus rassistischen oder politischen Gründen ihre Förderung. Die übrigen – wie auch die Vertrauensdozenten – wurden einer politischen Überprüfung unterzogen. Genaueres zum Verbleib der Förderer und Geförderten ist nicht bekannt. Es zeichnen sich für die Seite der Fördernden einzelne Kontinuitäten zur Weimarer Zeit, aber auch eine beträchtliche Zahl neu Hinzukommender ab. Die größte Diskontinuität liegt bei den Geförderten vor.
  4. Als Diskontinuität ist die Organisationsform zu betrachten: Erst 1948 wurde die Studienstiftung in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins zu einer selbstständigen Institution. Zwar wurde vom Gründerkreis eine Fortsetzung der Strukturen aus der Zeit vor 1933 angestrebt, der vormalige Geschäftsführer aber nur noch beratend einbezogen. 1925 war die Studienstiftung als Abteilung der „Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft“ gegründet worden und befand sich damit zumindest bis 1931 organisatorisch im Horizont der völkisch und dann NS-dominierten „Deutschen Studentenschaft“.
  5. Eine wesentliche Diskontinuität gab es bei den Förderkriterien. 1925 war angesichts von Weltkrieg und Inflation eine Förderung „befähigter Studenten aller Stände“ das Ziel. Die wirtschaftliche Bedürftigkeit war zwar eine sine qua non der Aufnahme, maßgeblich aber eine „Gesamtpersönlichkeit“ als „für die Volksgesamtheit wertvoll“ (zit. n. Ludwig 2010: 106). Die meritokratische Außendarstellung war von Beginn an eine „normative Selbstdefinition“ (Solga 2008: 23). 1948 wollte man die soziale Bedürftigkeit nicht mehr berücksichtigen. Das nun vertretene Elitenkonzept setzte vielmehr auf Konservatismus und christliche Arbeitsethik.

Durch die Auflösung und Systemumbrüche sind mehrere Zeitschichten für eine Geschichte der Studienstiftung relevant: die Stabilisierungsphase der Weimarer Republik (1925-1929), die Phase des Aufstiegs und der frühen Herrschaft des NS (1930-1933/34), das NS-Regime (1934-1945), die Besatzungsphase nach 1945 und die Gründung der Bundesrepublik (ab 1948/49) sowie die 1960er Jahre. Für alle Zeitschichten ist nach konkurrierenden, affinen bis systemtragenden oder indifferenten, auf Distanz angelegten Positionierungen der Studienstiftung sowie ihrer Angehörigen und Geförderten zum „Nationalsozialismus“ zu fragen.

Das Gesamtprojekt soll zwei Teilstudien umfassen:

 

Studie A (Dr. Thomas Prüfer)

Die Studienstiftung des deutschen Volkes.  Kontinuitäten und Diskontinuitäten nach 1945

Die Gründer der „zweiten“ Studienstiftung verfolgten 1948 das Ziel, mit der Begabtenförderung einen konstitutiven Beitrag zum Aufbau der zweiten deutschen Republik zu leisten. Wie ihre Vorgänger 1925 erkannten sie einen engen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Stabilisierung und bildungspolitischen Reformen. Doch stellte man sich 1948 nicht gänzlich in die Tradition der Vorgängerinstitution und wählte insbesondere – u.a. mit dem Verzicht auf das Kriterium der „Bedürftigkeit“ – andere Auswahlkriterien und Verfahrensformen. Diese Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Brüchen ist bekanntlich symptomatisch für die frühe Bundesrepublik insgesamt und ihre akademische Welt (Weisbrod 2002; Bayer/Sparing/ Woelk 2004; Haupts 2007; Grüttner 2004; Grüttner u.a. 2010).

Das Teilprojekt A versteht sich als Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der deutschen Elitenbildung der Bundesrepublik, indem die Auswahl von „Begabten“ mit den vergangenheitspolitischen Bedingungen ihrer Auswahl in der Studienstiftung rückgekoppelt wird. Es soll die vergangenheitspolitischen Nachwirkungen und Verwandlungsprozesse für die Studienstiftung als nichtstaatlicher Scharnierfunktion zwischen Staat, Wissenschaft und Gesellschaft untersuchen. Über personenbezogene Untersuchungen hinaus soll das Spannungsverhältnis von Meritokratie, Herkunft und Habitus im akademischen Kontext (Bourdieu 1981, 1988, 2004, 2007; Gabriel/Neuss/Rüther 2004; Graf 2015) durch die NS-Nachwirkungen besonders perspektiviert werden, um ein genaueres Verständnis der Rolle akademischer Organisationskulturen für die Elitenbildung zu gewinnen.

Studie B (Enno Schwanke, M.A.)

Die Studienstiftung und der Nationalsozialismus:

Lebensläufe, Kollektivbiografien, Netzwerke (1925-1948)

Das Teilprojekt B geht zunächst im Rahmen einer Machbarkeitsstudie den Fragen nach den Biografieverläufen der Geförderten und Mitarbeiter der ersten Studienstiftung nach. Für das Teilprojekt werden folgende grundlegende Fragen formuliert: Wie viele Studienstiftler waren von Ausschaltung und Vertreibung betroffen, und wie verliefen ihre weiteren Lebens- und Schicksalswege? Welche Lebens- und Karrierewege beschritten jene Mitglieder der Studienstiftung, die nicht von den NS-Exklusionsmechanismen betroffen waren? Arrangierten sich diese oder bedingte ihre Mitgliedschaft in der als republikanisch geltenden Studienstiftung eine gewisse Immunisierung gegenüber dem Nationalsozialismus? Wie hoch ist der Anteil an Partei- und ähnlichen Mitgliedschaften, und in welche beruflichen Positionen kamen ehemalige Studienstiftler? Lassen sich darüber hinaus empirisch gesicherte Aussagen darüber treffen, wie sich Studienstiftler im Kontext von Demokratie und Diktatur insgesamt verhielten?

Projektbeteiligte

Prof. Dr. Habbo Knoch

Dr. Thomas Prüfer

Dr. Enno Schwanke

 

Wissenschaftlicher Beirat

Das Gesamtprojekt wird durch einen unabhängigen wissenschaftlichen Beirat begleitet, der aus Prof. Dr. Frank Bösch (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam),  Prof. Dr. Michael Wildt (Humboldt-Universität Berlin), Prof. Dr. Andreas Wirsching (Institut für Zeitgeschichte München) und Prof. Dr Melanie Wald-Fuhrmann (Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik) besteht.

Förderung

Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und wurde durch die Studienstiftung des deutschen Volkes initiiert.

 

Publikationen

Habbo Knoch / Enno Schwanke / Kerstin Thieler, „Gesamtpersönlichkeit“ statt „Elite“. Begabungskonzepte der Studienstiftung des deutschen Volkes und die post-bürgerliche Elitenbildung des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte, 61 (2021), S. 203–238, hervorgegangen aus einer Tagung zum Thema „Eliten und Elitenkritik vom 19. bis zum 21. Jahrhundert“.