Die Revolution kehrt zurück – "Le Constitutionnel", die Pariser Presse und Friedrich von Gentz (1815-1830)

Die Redakteure

Bernd Klesmann

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Die periodische Presse, die sich bereits im 18. Jahrhundert als ein Hauptforum 'intellektuellen' Gedankenaustauschs etabliert hatte, blieb in Frankreich auch nach Revolution und Empire als öffentlicher Sprachraum erhalten. Einen besonderen Aufschwung erlebte nach dem Ende der napoleonischen Zensur die Oppositionspresse, unter deren Organen der "Constitutionnel" als auflagenstärkste Zeitung im Frankreich der Restaurationszeit herausragt. Entstehung und Entwicklung des Zeitungsunternehmens sind auf Grundlage der Pariser Notariatsarchive recht detailliert erforscht worden. [1] Neben politischen Nachrichten aus Frankreich und Europa bildeten Buchbesprechungen und Theaterkritiken inhaltliche Schwerpunkte des Blattes, dessen Nähe zu Bonapartismus und Frühliberalismus schon von der historischen Presseforschung des 19. Jahrhunderts erkannt wurde. [2] Ein Grund für die Popularität der Zeitung ergab sich aus der regelmäßigen Berichterstattung über Gerichtsprozesse und Parlamentsdebatten, wie auch die königlichen Behörden aufmerksam registrierten. [3]

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Dass die wörtliche Wiedergabe von Debatten der "Chambre des députés" auch Zweifel an deren Niveau wecken konnte, ergibt sich nicht zufällig aus der postumen Würdigung Friedrich von Gentz' aus der Feder seines Schützlings Anton Prokesch (seit 1830 Ritter von Osten), der in manchen Ausführungen der "französischen Kammerdeklamanten", die er zu einem guten Teil im "Constitutionnel" verfolgt haben dürfte, offenbar wenig mehr als theatralische Inszenierung und "kindisches Verlangen" sehen mochte. [4] Gentz hatte sich bekanntlich bereits in der Präambel zu den Karlsbader Beschlüssen von 1819 gegen öffentliche Berichte aus dem gesamten Bereich politischer Entscheidungsfindung ausgesprochen und befürchtete von allgemeiner Pressefreiheit einen unheilvollen "Zwiespalt der Meinungen" in einem "täglich erneuerten, alle Grundsätze erschütternden, alle Wahrheit in Zweifel und Wahn auflösenden Kampfe". [5] Dass hier, zumal im Zusammenspiel mit der einsetzenden schärferen Kontrollierung der deutschen Universitäten, der Einfluss 'intellektueller' Anregungen und Diskussionen programmatisch auch durch Gentz stark eingeschränkt wurde, fügt sich zwar in das charakteristische Bild eines postnapoleonischen Konservatismus am Vorabend der Krisen in Neapel, Spanien und Griechenland, spricht jedoch keineswegs dagegen, Gentz' persönliche Wirksamkeit als streitbare Komponente 'intellektueller' Aushandlungsprozesse zu verstehen.

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Zu den Pariser Redakteuren des "Constitutionnel" zählten Autoren von europäischer Bekanntheit. An erster Stelle ist ein einflussreicher publizistischer Antipode der Wiener Politik zu nennen, der Dramatiker und Politiker Charles-Guillaume Étienne, der nach Wahl (1811), Ausschluss (1816) und Wiederwahl (1829) in die Académie Française unter der Julimonarchie gar zum "Pair de France" aufsteigen sollte. Für Gustav Wilhelm Schlesier, den zweiten zeitgenössischen Herausgeber der Gentzschen Schriften, war Étienne "unstreitig einer der geistreichsten giftigsten und in der Schreibart eindringlichsten und zierlichsten Journalisten des neueren Frankreich." [6] In einem Schreiben an Joseph Anton Pilat erwog Gentz selbst scherzhaft eine Anwerbung Étiennes für den "Österreichischen Beobachter", jedoch "nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß wir bloß seinen Stoff annehmen, seine Artikel aber (die nicht einmal gut geschrieben sind) ganz nach Wohlgefallen umarbeiten dürfen." [7]

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Zu den Betreibern des "Constitutionnel" gehörten weitere profilierte Schriftsteller, die das literarische Leben der Julimonarchie maßgeblich mitprägen sollten, wie Pierre-François Tissot (Académie Française ab 1833) und Antoine Jay (Académie Française ab 1832). Historische Schriften zur Revolutionsgeschichte hinterließen die Autoren Alexandre Rousselin de Saint-Albin und Marc-Antoine Jullien 'de Paris'. [8] Louis-Augustin-François Cauchois-Lemaire war als politischer Schriftsteller und Kirchenkritiker in verschiedene Strafprozesse verwickelt, wurde jedoch unter König Louis-Philippe 1840 Direktor des Nationalarchivs und verfasste eine viel beachtete Geschichte der Julirevolution. [9] Gentz hatte ihn im Zuge einer äußerst kritischen Besprechung einer Schrift Benjamin Constants von 1821 im "Österreichischen Beobachter" mit diesen Worten charakterisiert: "Hätte ein Cauchois-Lemaire oder ein anderer jakobinischer Handlanger von der gemeinsten Klasse zu einer politisch-literarischen Gaunerei von so schmutziger Art seinen Namen hergegeben – wen würde das befremden?" [10]

Anmerkungen

[1] Vgl. Marion Mouchot: 'Le Constitutionnel'. Contribution à l'histoire de la presse sous la Restauration, thèse École Nationale des Chartes, unpubliziertes Typoskript, Archives Nationales (Pierrefitte), AB / xxviii / 446.

[2] Vgl. Eugène Hatin: Bibliographie historique et critique de la presse périodique française [...], Paris 1866, 326f.

[3] So der Bericht des Präfekten von Haute-Marne vom 14. Juni 1828, Mouchot: Le Constitutionnel (wie Anm. 1), 14.

[4] Prokesch von Osten an Gustav Schlesier, Athen 20. Januar 1839, in: Gustav Schlesier (Hg.): Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, 3. Teil, Mannheim 1839, ND Hildesheim / Zürich / New York 2002, VII-XXVIII, hier: XVI.

[5] Friedrich von Gentz: Eingang zu den Karlsbader Beschlüssen von 1819, in: Schlesier (Hg.): Schriften (wie Anm. 4), 3. Teil, 157-177, hier: 173f.

[6] Einleitende Bemerkungen des Herausgebers zu Friedrich von Gentz: Französische Kritik der deutschen Bundesbeschlüsse von 1819, in: Schlesier (Hg.): Schriften (wie Anm. 4), 3. Teil, 178-182, das Zitat 181.

[7] Gentz an Pilat, Wien 7. / 8. Oktober 1819, zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/813.html?l=de <05.01.2016>.

[8] Zu diesem vgl. jetzt Jean-Luc Chappey: Penser les progrès de la civilisation européenne sous la Restauration: Marc-Antoine Jullien et la 'Revue encyclopédique' (1819-1831), in: Jean-Claude Caron / Jean-Philippe Luis (Hg.): Rien appris, rien oublié? Les Restaurations dans l'Europe postnapoléonienne (1814-1830), Rennes 2015, 143-155.

[9] Vgl. Louis-Augustin-François Cauchois-Lemaire: Histoire de la révolution de 1830, précédée d'un résumé historique de la restauration et d'une esquisse préliminaire sur le mouvement démocratique, Paris 1842.

[10] Friedrich von Gentz: Ueber Benjamin Constant's Schrift: Du triomphe inévitable et prochain des principes constitutionnels en Prusse, in: Schlesier (Hg.): Schriften (wie Anm. 4), 3. Teil, 225-237, hier: 231; "Österreichischer Beobachter", Nr. 119, Sonntag 29.4.1821, 5f., hier: 6.

Empfohlene Zitierweise
Bernd Klesmann, Die Revolution kehrt zurück – "Le Constitutionnel", die Pariser Presse und Friedrich von Gentz (1815-1830) (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/3), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Die Redakteure (Datum des letzten Besuchs).