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Nachlass Dr. med. Alfred Haehner, Leibarzt Wilhelm II.

Wenige Personen der deutschen Geschichte sind so umstritten wie der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II., der nach der Novemberrevolution 1918 abdankte und seine Tage im niederländischen Exil beschloss. In den vergangenen Jahren haben Restitutionsstreitigkeiten und Debatten um ihre politische Mitverantwortung für den Aufstieg des Nationalsozialismus die Geschichte der Hohenzollern, vor allem aber die Zeit nach dem Thronverlust, wieder in den Fokus der Forschung gerückt. Das fünfbändige Tagebuch des Kölners Dr. Alfred Haehner (1880–1949), der von 1919 bis 1924 in Amerongen und Doorn als Leibarzt des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. und seiner beiden Ehefrauen Auguste Victoria (bis 1921) und Hermine von Schoenaich-Carolath (ab 1922) fungierte, stellt für diese Periode eine unverzichtbare Quelle dar. Es bietet, aus ungewöhnlicher Perspektive, gleichermaßen Einblicke in die Struktur des niederländischen Exilhofes sowie die ungebrochenen politischen Ambitionen und die persönliche Gedankenwelt des ehemaligen Kaisers. Haehner war in erster Linie für die ärztliche Betreuung der schwer kranken Kaiserin und das physische und psychische Wohl des Ex-Monarchen zuständig. Als Neuling der Entourage protokollierte er – sorgfältig wie einst Goethes getreuer Eckermann – jedoch keineswegs nur medizinische Einzelheiten, sondern ebenso seinen ganz persönlichen (und zunehmend desillusionierten) Eindruck Wilhelms II. und seiner Umgebung. Haehners Aufzeichnungen dokumentieren Intimes und Privates, besonders aber die am Exilhof permanent geführte Verhandlung der historischen und politischen Brüche rund um die Fixpunkte 1914 und 1918, die Frage der Kriegsschuld wie die Option einer Rückkehr der Hohenzollern auf den deutschen Kaiserthron. Im Rahmen eines dreijährigen, DFG-geförderten Projekts ist das bislang nur Spezialisten bekannte, im Historischen Archiv der Stadt Köln lagernde Original des Tagebuchs nun vollständig historisch-kritisch ediert und kommentiert worden. Angesiedelt an der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hat die Bearbeiterin apl. Prof. Sabine Mangold-Will unter der Leitung der Neuzeit-Historikerin Prof. Dr. Ute Planert eine Druckfassung der Tagebücher fertiggestellt und dabei die Grundlagen für den Aufbau einer digitalen Webedition gelegt, die dieses zentrale Zeugnis der Geschichte der deutschen Monarchie „nach der Monarchie“ für Interessierte aus aller Welt online zugänglich machen und die klassische Buchform um digitale Inhalte bereichern soll. Das Projekt versteht sich als Teil einer internationalen Forschungslandschaft, in der die Rolle der Monarchie im 19. und 20. Jahrhundert verstärkt in den Vordergrund rückt. Workshops mit Studierenden und die Anbindung an die Forschungsstelle Geschichte Kölns haben das Editionsvorhaben mit der Universität zu Köln und dem Kölner Stadtarchiv vernetzt. Erste Ergebnisse wurden bei einer internationalen Tagung zur Geschichte der Monarchie in der europäischen Zwischenkriegszeit in München 2023 vorgestellt; der dazugehörige Tagungsband erscheint Ende 2024. Anfang des Jahres wurden die Arbeiten am Editionsprojekt abgeschlossen. Mit der Veröffentlichung der gedruckten Fassung der Haehner-Tagebücher ist im Frühsommer 2024 zu rechnen.